Lüge als Waffe: Wie Putin Geschichte umschreibt

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In den Archiven der Diplomatie liegen die Protokolle einer historischen Wende begraben – jene Februartage 1990, als die Welt noch im Aufbruch war und die Berliner Mauer gerade drei Monate in Trümmern lag. Heute werden diese Dokumente zum Schlachtfeld eines anderen Krieges: dem Krieg um die Deutungshoheit über die Geschichte. Wladimir Putin, so Robert Zoellick in seinem eindringlichen Gastbeitrag für die FAZ in dieser Woche, führt diesen Krieg mit der Präzision eines Chirurgen – nur dass er nicht heilt, sondern Wunden aufreißt.

Die Erzählung, die Putin der Welt auftischt, ist von verführerischer Einfachheit: Der Westen habe 1990 versprochen, die NATO niemals nach Osten zu erweitern. Ein Wortbruch von historischen Dimensionen, der Russlands Aggression gegen die Ukraine rechtfertige. Doch Zoellick, selbst Zeitzeuge jener dramatischen Monate, zertrümmert diese Legende mit der Gründlichkeit eines Archäologen, der Schicht um Schicht freilegt, was wirklich geschah.

James Baker, der amerikanische Außenminister, stand damals vor einer fast unlösbaren Aufgabe: Wie überzeugt man eine Supermacht davon, ihre wertvollste Geisel – die DDR – freizugeben? Seine Strategie war von diplomatischer Raffinesse geprägt. Die berühmte Frage an Gorbatschow – ob er ein vereintes Deutschland lieber außerhalb oder innerhalb der NATO sähe – war ein rhetorisches Manöver, kein Vertrag. Die Sowjets wiesen sie zurück, und die Geschichte nahm ihren Lauf.

Was folgte, war der Zwei-plus-vier-Vertrag – ein Dokument von bemerkenswerter Präzision. Hier wird sichtbar, wie akribisch die Verhandlungsführer arbeiteten. Sie feilschten um jedes Wort, um jede Nuance. Das Wort “eingesetzt” hätte beinahe das gesamte Abkommen zum Scheitern gebracht – nicht aus Versehen, sondern aus strategischer Weitsicht. Zoellick erkannte bereits damals, dass Polen eines Tages NATO-Mitglied werden könnte. Die Diplomaten dachten in Jahrzehnten, nicht in Jahren.

Besonders entlarvend ist Zoellicks Hinweis auf das Schweigen der Russen während der ersten NATO-Erweiterung. Wäre tatsächlich ein Versprechen gebrochen worden, hätten sie 1996/97 protestiert. Stattdessen herrschte Schweigen – das Schweigen derjenigen, die wussten, dass es nichts zu beanstanden gab.

Putin instrumentalisiert heute diese Vergangenheit mit der Kaltblütigkeit eines Propagandameisters. Er weiß, dass Geschichtsfälschung besonders in Deutschland verfängt, wo das Bewusstsein für historische Verantwortung tief verwurzelt ist. Er spekuliert darauf, dass deutsche Unterstützung für die Ukraine schwinden könnte, wenn er nur überzeugend genug lügt.

Doch Zoellicks Analyse offenbart mehr als nur die Mechanik der Desinformation. Sie zeigt, wie kostbar jene Prinzipien sind, die 1990 triumphierten: das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, die Vision eines geeinten, freien Europas. Diese Ideen ermöglichten nicht nur Deutschlands Wiedervereinigung, sondern auch die Befreiung Mittel- und Osteuropas.

Heute steht dieses Erbe zur Disposition. Putins Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen die Ordnung, die aus den Trümmern des Kalten Krieges entstand. Die Ironie ist bitter: Ausgerechnet Russland, das 1990 von dieser Ordnung profitierte, versucht sie nun zu zerstören.

Zoellicks Botschaft ist unmissverständlich: Deutschland kann seiner Geschichte nur treu bleiben, indem es jenen Prinzipien folgt, die seine eigene Befreiung ermöglichten. Die Ukraine zu unterstützen bedeutet nicht, alte Versprechen zu brechen – es bedeutet, sie zu erfüllen.

Last Updated on 30. August 2025 by Lupo


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