Im moralischen und politischen Niedergang – Dmitry Glukhovsky blickt auf Russland

Lesedauer 4 Minuten

„Es hat einmal eine Zeit gegeben, da brach diese Großmacht mit dem Totalitarismus, zog freiwillig ihre Panzerarmeen aus Europa ab und hieß Amerika mit offenen Armen willkommen. Warum ist es heute wieder ein Schurkenstaat, der einen tiefen Groll auf die ganze Welt zu hegen scheint? Wie und wann hat sich diese Wandlung vollzogen? Und vor allem: Hat sich diese bösartige Mutation nur in den staatlichen Strukturen vollzogen oder auch im ganzen Land, in den Menschen?“

Das Zitat stammt aus der Einleitung von Dmitry Glukhovsky Buch „Wir. Tagebuch des Untergangs“ und wirft im nunmehr vierten Jahrgang des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine die unweigerliche Frage auf: “Wie konnte es dazu kommen?”

Der russische Schriftsteller, Dramatiker und Journalist dokumentiert in seinen Essays den Abstieg Russlands wie in einem düsteren Bordbuch – „als wäre er ein Raumfahrer, der gerade in ein Schwarzes Loch stürzt“. Mit schonungslosem Blick seziert er die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre und entwirft das Bild eines Landes im freien Fall.

„Wie konnte Russland sich von einem demokratischen Staat in eine totalitäre Diktatur neosowjetischer Prägung verwandeln?“, fragt er – und gibt selbst eine bittere Antwort: Russland sei nie eine wirkliche Demokratie gewesen, ebenso wenig sei es heute bereits eine vollendete Diktatur. Vielmehr beschreibt Glukhovsky sein Heimatland als durchweg korrupte Bananenrepublik – nicht unähnlich den autoritären Systemen Lateinamerikas oder Afrikas im 20. Jahrhundert.

„Wir. Tagebuch des Untergangs“ ist Dmitry Glukhovskys schonungsloser Blick in den Abgrund seiner Heimat Russland – eine Sammlung von etwa fünfzig Essays und Texten, geschrieben zwischen 2012 und 2024, die wie Splitter eines zerfallenden Spiegels das Bild eines Landes im moralischen und politischen Niedergang zeigen. Aus einer subjektiven, oft wütenden und sarkastischen Perspektive rechnet der Autor mit dem Regime Wladimir Putins ab – mit einer Elite, die sich hörig um den „Zaren“ schart, und mit einer Gesellschaft, die in Lethargie oder stiller Komplizenschaft den Weg in die Diktatur mitgeht.

Ausgehend vom Beginn der 3. Amtszeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin hält Glukhovsky in seinem einem Tagebuch nachempfundenen Werk die dunkelsten Momente fest: die Vergiftung und der Tod Alexej Nawalnys, staatlich orchestriertes Doping, Wahlfälschungen, das bewusste Auslöschen historischer Erinnerung. Viele seiner Texte sind wie Botschaften aus einer dystopischen Zukunft verfasst – Rückblicke aus einer Zeit, in der das heutige Russland längst Geschichte ist, eine bedrückende, mahnende.

Den jeweiligen anlassbezogenen Essays und Texten vorangestellt ist ein Kontext der Ereignisse, auf den die Texte Bezug nehmen. In einem nachfolgenden Blick aus der Zukunft reflektiert Glukhovsky seine damalige Stellungnahme.

Immer wieder richtet sich Glukhovsky auch an seine Landsleute.

„Aber zu uns selbst dürfen wir doch ehrlich sein, oder? Wenigstens zu uns selbst? In dem Sinne, dass wir zwar unsere Seele verkaufen, aber die Feigenhand (die Faust mit dem zwischen Zeige-und Mittelfinger hindurchgesteckten Daumen, unseren russischen Stinkefinger) immer noch in unserer Hosentasche zusammenballen? Die Hosentaschenfeige, sie ist bei uns die beliebteste Form des Widerstands gegen Hochstapler und Usurpatoren.“

Und an anderer Stelle noch eindringlicher:

Und doch sind wir nicht in der Lage, uns selbst einzugestehen, dass unser Land, das stets den Kolonialismus des Westens be-kämpfte, selbst ein Kolonialreich ist – nein, das kommt uns nicht über die Lippen. Anders als der Westen, der in eine neue, post-koloniale Phase seiner historischen Entwicklung eingetreten ist, bekommt Russland weder seine Vergangenheit noch seine Gegenwart in den Griff – und setzt deswegen seine Zukunft aufs Spiel. All das heulende Geschrei, das Fäusteschütteln, das unkontrollierte Gefluche unserer Regierungsvertreter bei jedem Versuch eines ehrlichen Dialogs über die Vergangenheit sind deutliche Symptome unterdrückter Erinnerungen. Ins Unbewusste verdrängt hat man sie aus einem einfachen Grund: weil es in der heutigen, postkolonialen Welt nicht mehr akzeptabel ist, eine Kolonialmacht zu bleiben.

Entstanden ist ein Werk von bedrängender Aktualität – ein literarischer Seismograf der politischen Erschütterungen Russlands, und zugleich ein persönliches, zorniges Protokoll eines schmerzhaften Abschieds. Aus den einzelnen Texten „wird ein aus vielen Mosaiksteinchen zusammengesetztes Wandbild, das die heutige Katastrophe Russlands darstellt und zugleich eben-jenes Russland beschreibt, das diese Katastrophe gerade durchlebt.“

Dmitry Glukhovsky, wurde am 12. Juni 1979 in Moskau geboren. Zu seinen bekanntesten Werke sind die postapokalyptischen Romane der “Metro”-Reihe, die 2002 mit “Metro 2033” begannen. Dieser Roman, ursprünglich ein kostenloses Online-Projekt, wurde später ein weltweiter Bestseller und die Grundlage für eine erfolgreiche Videospielreihe. Zu seinen weiteren Büchern gehören “Metro 2034”, “Metro 2035”, “Sumerki” (Dämmerung), “Future” und “Text”. Als Journalist arbeitete er für verschiedene Nachrichtenagenturen wie Euronews, Deutsche Welle und Russia Today. Er war weltweit als reisender Reporter tätig, unter anderem in der Sperrzone von Tschernobyl und am Nordpol. Neben seiner Muttersprache Russisch spricht er fließend Englisch, Französisch, Deutsch, Hebräisch und Spanisch. Dmitry Glukhovsky ist ein langjähriger Kritiker des russischen Regimes. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 wurde er von den russischen Behörden zur Fahndung ausgeschrieben und im August 2023 in Abwesenheit zu 8,5 Jahren Gefängnis verurteilt. Er lebt derzeit im Exil in Europa.

Last Updated on 7. June 2025 by Lupo


Entdecke mehr!

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.



0 responses

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *