Absurdität ist das Prinzip – Irina Rastorgueva über russische Propaganda

Lesedauer 4 Minuten

Vor zehn Jahren hat der Osteuropahistoriker Ulrich Schmid mit seinem Buch „Technologien der Seele“ eine kritische Analyse der kulturellen und ideologischen Mechanismen im heutigen Russland vorgelegt. Es zeigte, dass autoritäre Systeme nicht nur auf Repression beruhen, sondern auf der „gezielten Konstruktion von Wirklichkeit“. Er eröffnete damit wichtige Einblicke in das Denken und die kulturellen Grundlagen des Putin-Regimes. Der Begriff „Technologien der Seele“ spielte auf Michel Foucaults Theorie von Macht und Disziplin an: Steuerung geschieht nicht durch Gewalt allein, sondern durch Formen der inneren Lenkung und Selbstkontrolle.

Zehn Jahre später dokumentiert Irina Rastorgueva die Folgen dieser gezielten Konstruktion von Wirklichkeit in der russischen Politik und Gesellschaft. Was passiert mit einer Gesellschaft, in der Wahrheit keinen Platz mehr hat? In der Lüge nicht nur akzeptiert, sondern zur Pflicht wird? Rastorgueva hat genau das untersucht – und in ihrem Buch „Pop-Up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung“ ein bedrückendes, erschütterndes Protokoll einer Nation dokumentiert, die sich systematisch selbst belügt.

Rastorgueva lebt im Berliner Exil. Vielleicht ist genau dieser Abstand nötig, um mit so klarem Blick zu sehen, wie sehr sich Putins Russland in einem Sumpf aus Desinformation, Gewaltverherrlichung und irrwitzigen Verschwörungstheorien eingerichtet hat. Sie dokumentiert, was russische Staatsmedien Tag für Tag verbreiten: dass die Ukraine von Nazis regiert werde, westliche Demokratien von „Raptoiden“ aus dem All unterwandert seien, durch Oralsex Sperma in das Gehirn gelange und Krebs verursache – und britische Bürger Eichhörnchen essen müssten, weil sie hungern.

Russische Bürger haben genug mit den vielen verschiedenen, auch einander nicht kreuzenden Realitäten zu tun. Unzählige Videos von der Front zeigen Mobilisierte und Söldner, die um Ausrüstung, Waffen, Training, Nahrung oder Helme bitten. Offizielle Informationsquellen berichten, wie Tarnnetze gewebt, Ikonen gekauft und Maskottchen wie das glubschäugige nationale Kuscheltier Tscheburaschka genäht werden. »Es sollte nicht länger als zehn Zentimeter sein, damit es in eine Brusttasche passt«, kommentiert der Korrespondent kenntnisreich. Und parallel dazu ein Video von der Front: »Wir werden hier sterben, wir werden wie Fleisch in den Angrift geworfen, wir haben nicht mal die grundlegendsten Waften,« Hüllt euch in Tarnkleidung, Genossen Soldaten, klebt euch Ikonen auf die Stirn und Tscheburaschka wird euch beschützen..

Das klingt absurd. Aber genau diese Absurdität ist das Prinzip. Rastorgueva zeigt, wie die russische Propaganda funktioniert: Je grotesker die Behauptung, desto glaubhafter wirkt sie auf ein Publikum, das gelernt hat, dass Realität immer relativ ist. Fakten verlieren ihren Stellenwert, Zweifel wird zur Grundhaltung – bis die Lüge selbst zur Normalität wird.

Die Verfälschung von Bedeutungen hat die Geschichte in eine semiotische Collage verwandelt, in der versucht wird, mit Mosaiksteinchen aus verschiedenen Epochen und Zeiten ein sinnvolles Bild zu formen, eine alternative Geschichte zu schaffen, die dem aktuellen politischen Kurs entspricht, ohne sich um die Bedeutung der einzelnen Fragmente kümmern zu müssen.

Die Beispiele, die Rastorgueva in ihren Buch beschreibt, sind tatsächlich grotesk und die lakonische Art, in der sie diese kommentiert, verschlägt einem bisweilen den Atem.

Die Mutter eines toten Mobilisierten erzählt, bevor er an die Front geschickt wurde, habe er geweint, er habe Angst gehabt. Dann hätte sie zu ihm gesagt: »Was willst du tun, es ist deine Pflicht. Du musst dienen. Du musst deine Großmutter beschützen.« Und er erfüllte seine Pflicht – und starb Tausende von Kilometern entfernt von dieser Großmutter, die durch nichts bedroht war. Außer von der Politik ihres Staates, wie angefügt werden muss.

Das Buch ist keine klassische Analyse, sondern eine Sammlung: hunderte Stimmen, Zitate, Meldungen, Gerüchte, Schlagzeilen. Daraus entsteht ein Mosaik des Wahnsinns – und ein bedrückendes Porträt eines Staates, der sich seine eigene Wahrheit zusammenbaut. Schulen, Universitäten, Kirchen, Medien, Militär: Kaum ein Bereich bleibt von der Durchdringung durch ideologische Verzerrung verschont.

Besonders eindrücklich ist Rastorguevas Beschreibung der Sprachverrohung. Was früher vielleicht zwischen den Zeilen mitschwang, wird heute offen ausgesprochen: Hass, Gewaltfantasien, Rassismus, Menschenverachtung. Und es ist nicht nur Rhetorik – es sind reale Haltungen, die in Handlungen münden: in Folter, Mord, Repression. Die Gewalt hat System – und beginnt mit der Sprache.

Das Erschreckende dabei: Viele, die früher als Kritiker galten, machen heute mit. Rastorgueva spricht von „Selbstvergiftung“, einem mentalen Zustand, in dem die ständige Wiederholung der Lüge irgendwann als Wahrheit erscheint. Und sie beschreibt eine Gesellschaft, in der zu viele Menschen mitmachen, mitlaufen, weitermachen. Die Opposition? Fragmentiert, unterdrückt, ins Exil getrieben. Der Widerstand? Schwach, wenn überhaupt noch existent.

„Pop-Up-Propaganda“ ist kein leichtes Buch, aber ein notwendiges. Es macht wütend, traurig und ratlos – aber es klärt auf. Rastorgueva hält der Welt einen Spiegel vor, der nicht nur Russland betrifft. Denn wenn Wahrheit zur Lüge wird, betrifft das uns alle.

Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung ist im Matthes & Seitz-Verlag erschienen. Es hat 337 Seiten und kostet 28 EUR.

***

Irina Rastorgueva, geboren 1983 in Juschno-Sachalinsk, ist eine russische Autorin, Dramaturgin und Kulturjournalistin. Sie arbeitete als Dozentin und Theatermacherin in Russland, seit 2017 lebt sie in Berlin. Ihre Essays analysieren die Mechanismen russischer Propaganda mit scharfem Blick und literarischer Präzision. Für ihr Buch Pop-up-Propaganda erhielt sie 2025 den Preis der Leipziger Buchmesse.

Last Updated on 9. June 2025 by Lupo


Entdecke mehr!

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.



0 responses

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *