Kurz nach Beginn des russischen Angriffs machten sich fünf führende osteuropäische Politiker auf den Weg, um dem Angegriffenen vor Ort ihre Solidarität und Unterstützung zu bekunden. Angeführt vom polnischen Präsidenten reisten die Präsidenten Litauens und Estlands und der lettische Ministerpräsident von Warschau nach Tiflis. Bei einem Zwischenstop auf der Krim stieg noch der damalige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko zu. Das war in 2008, am Wochenende vor der Tiflis-Reise hatten die Politiker aus Polen und dem Baltikum das russische Vorgehen “gegen ein souveränes Land” scharf verurteilt und Moskau eine “imperialistische und revisionistische Politik” vorgeworfen. Ähnlich äußerte sich auch der ukrainische Präsident. In Kyiv stellte man damals in der Presse bereits offen die Frage, ob die Ukraine das nächste Land sein werde, dass Moskau wieder unter seine Kontrolle bringen werde. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb damals von einem „Solidaritätsbesuch der Verängstigten“.
Im März 2022 machten sich wieder EU-Regierungschef auf den Weg, diesmal mit dem Zug. Das Ziel der Reise war Kyiv. Sie fand statt während der Kampf um die ukrainische Hauptstadt noch im Gange war und die russischen Truppen bis auf wenige Kilometer auf die Stadt am Dnipro vorgerückt waren. Und wieder waren es die Osteuropäer: Der polnische Premier Mateusz Morawiecki mit seinem Parteichef Jaroslaw Kaczynski sowie seine slowenischen und tschechischen Amtskollegen Janez Jansa und Petr Fial . Sie trafen sich, allen Gefahren zum Trotz, mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyj im Bunker unter dessen Amtssitz. Währenddessen telefonierten der französische Staatschef Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem russischen Präsidenten Vladimir Putin.
Die Sichtweisen auf den Umgang mit Russland waren in West- und Osteuropa bis zum Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine im Februar 2022 grundverschieden. Während man im Westen der Vorstellung anhing, Russland durch wirtschaftlichen Austausch in eine friedliche internationale Ordnung einzubinden, warnten die osteuropäischen Nachbarn Russlands vor dessen aggressivem Neoimperialismus. Seit der „Zeitenwende“ herrscht in dieser Region die Überzeugung, dass man Recht hat und dass man die ganze Zeit über Recht hatte. Auch wenn sich die Betrachtungsweisen seit Februar 2022 in Europa angenähert haben, lassen sich weiterhin Unterschiede im Umgang mit Russland und der Beurteilung der Lage in Ost- und Westeuropa beobachten, der die Autoren Jarosław Kuisz und Karolina Wigura in ihrem Essay „Posttraumatische Souveränität“ auf den Grund gehen.
Karolina Wigura ist Vorstandsmitglied der Stiftung Kultura Liberalna, Jarosław Kuisz ist Chefredakteur des polnischen Online-Wochenblatts Kultura Liberalna und Assistenzprofessor an der Universität Warschau. Mit ihrem Konzept der „Posttraumatischen Souveränität“ erklären sie die besondere osteuropäische Politik nach dem russischen Großanrgriff. Die unmittelbare Bedrohung, die Regierungen in Ost-Mitteleuropa dazu bewogen, ähnliche innen- und außenpolitische Maßnahmen zu ergreifen, so als wäre plötzlich ein Bündnis zwischen Staaten wiederhergestellt worden, die allesamt eine gewaltsame Aggression erlebt haben.
Die Staaten Mittel- und Osteuropas erkennen, so die Autoren, im tragischen Schicksal der Ukraine ihre eigene tragische Vergangenheit wieder und fürchten auch eine mögliche Zukunft. Viele glauben, „Wir sind als nächste an der Reihe“. Dem Trauma liegen die historischen Erfahrungen mit dem Verlust der Souveränität zugrunde. Aber nicht nur: Präsent ist ebenso die Angst, vom Westen wieder im Stich gelassen und dem östlichen Aggressor ausgeliefert zu werden. Während es in Westeuropa gelungen war, die nationale Identität um den Preis der Kapitulation zu retten, mußten die Osteuropäer andere Erfahrungen machen. Sie mußten erleben, dass eine Kapitulation und ein Friedensschluss, der nicht auf einer eigenen Entscheidung beruht, gleichbedeutend mit Auslöschung und russischen Gräueltaten ist, wie sie beispielsweise nach dem Abzug der russischen Besatzer aus dem ukrainischen Butscha im Jahr 2022 aufgedeckt wurden. Insoweit liegen auch unterschiedliche Auffassungen über ein Szenario eines möglichen Kriegsendes in Ost- und West vor. Während man im Westen Angst vor einem Kollaps des russischen Staates hat, nimmt man den im Osten eher in Kauf. Bedeutsam sei es vielmehr, Russland eine Niederlage zuzufügen. „Aus ihrer Perspektive gibt es keine andere Möglichkeit, als ein Sieg über Russland. Jeglicher Kompromiss mit Putins Staat wäre nur eine vorübergehende Lösung.“
Die Autoren skizzieren vor den historischen Erfahrungen in Ost- und West auch einen unterschiedlichen Souveränitätsbegriff. „Während Souveränität und liberale Demokratie in den Augen vieler im Westen Hand in Hand gehen, ist das Mittel und Osteuropa nicht immer der Fall, vorrangig, so die Autoren, sei in Ost-Europa nicht die Wahl des politischen Systems, sondern der Erhalt der nationalen Souveränität. Unter diesem Aspekt würden auch politische Fragen anders als im Westen beurteilt, was sich am Beispiel der Nordsee-Pipeline Nordstream beobachten ließe, die von der Ukraine, Polen und den baltischen Staaten zuerst als Bedrohung ihrer nationalen Souveränität betrachtet wurde. Auch erklärt sich unter dieser Prämisse das beachtliche Engagement vieler osteuropäischer Staaten. „Man könnte meinen, die polnische Regierung verteidige im gegenwärtigen Krieg, die ukrainische Demokratie. Aber das tut sie nicht. Sie verteidigt die Souveränität Polens.“
Mit Ausnahme Belarus zeichnen die Autoren entlang der russischen Westgrenze von Finnland bis Moldau gemeinsame Wahrnehmungen und Verarbeitung des russischen Großangriffs auf die Ukraine nach. Finnland schätzt die von Moskau ausgehende Gefahr ähnlich ein wie Tallinn, Vilnius oder Warschau. Auch in Bukarest und Chisinau sind ähnliche Lagebeurteilungen zu vernehmen. Während im Westen noch die Auffassung vorherrsche, es habe sich um ein plötzlich aus dem Nichts aufgetreten unvorhersehbares Ereignis gehandelt, beurteilt man im Osten den Krieg gegen die Ukraine als Ergebnis eines langen Prozesses. „Es ist kaum zu übersehen, dass die Warnungen der osteuropäischen Länder angesichts der Entwicklung in der Ukraine seit 2014 und vor allem seit 2022 im Wesentlichen eine Wiederholung der Argumente darstellen, die ihre Regierungsvertreter im Jahr 2008 vorgebracht hatten“. Auch das besondere Schicksal von Belarus, das sich nach der Unabhängigkeit nicht nach Westen gewandt hat, sondern seine Beziehungen zu Russland vertieft hat und nach der gemeinsamen Gründung des Unionsstaates 1997 Stück für Stück seiner Souveränität und Handlungsfähigkeit beraubt wird, ist für seine Nachbarn ein eindringliches „Memento Mori“.
Ob man die durchgehende Psychopathologisierung großer Teile des europäischen Kontinents nun für überzeugend hält oder nicht, werfen die Autoren mit ihrem Essay und dem Konzept der „Posttraumatischen Souveränität“ jedoch ein dringlich notwendiges Licht auf das Befinden unserer osteuropäischen Nachbarn, deren Stimme in den vergangenen dreißig Jahren viel zu oft nicht gehört wurde. Wenn der französische Staatspräsident einräumt „Wir haben nicht immer richtig zugehört, wenn Sie uns zur Anerkennung ihrer Geschichte und ihrer schmerzhaften Erinnerung aufgefordert haben“, bleibt zu hoffen, dass sich das nachhaltig ändert. Die Autoren zeigen, dass die Diskussion über Ost-Europa im Westen oft von Klischees und Stereotypen geprägt ist. „Es ist in der Zeit, dass der Westen sich Kenntnisse erarbeitet.“
Jarosław Kuisz, Karolina Wigura: Posttraumatische Souveränität. Ein Essay. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023, 184 S., 18,– €.
Last Updated on 16. May 2024 by Lupo
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