Radbruch in Russland

Lesedauer 7 Minuten

Das Online-Magazin „dekoder“ hat dieser Tage einen Brief veröffentlicht, den der russische Autor Dmitry Glukhovsky an das „Basmanny-Gericht“ in Moskau geschrieben hat(fn). Dort findet gerade ein Strafprozess gegen Glukhovsky statt, dem vorgeworfen wird, gegen Artikel 207 Absatz 3 des Gesetzes „über die Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation“. verstoßen zu haben. Glukhovsky drohen im Falle eine Verurteilung bis zu 15 Jahren Haft. Allerdings hält sich der Autor gegenwärtig im Exil auf, der Prozess gegen ihn findet in seiner Abwesenheit statt. In einem Brief an das Gericht wehrt er sich vehement gegen die Vorwürfe und das zugrundeliegende Gesetz.

Gleichzeitig wurde diese Woche bekannt, dass in Russland nunmehr auch die Anforderungen für weitere Einberufungen zum Militärdienst herabgesetzt wurden. Entsprechende Gesetze wurden durch die Parlamentskammern auf den Weg gebracht. Musterungsbescheide müssen nicht mehr wie bislang per Einschreiben oder über den Arbeitgeber zugestellt werden, es genügt künftig eine elektronische Aufforderung. Gleichzeitig wird damit eine Ausreisesperre für die betroffene Person wirksam. Damit wird es für die russischen Behörden einfacher, Wehrpflichtige einzuziehen und Betroffene schwerer, sich dieser zu entziehen, in dem sie untertauchen oder wie im Herbst vergangenen Jahres zu Zehntausenden das Land zu verlassen.

Mit der Einführung des Gesetzes „über die Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation“ im Zuge des Angriffs auf die Ukraine wurde die Zensur in Russland drastisch verschärft. Mittlerweile können bereits geringe Abweichungen von der offiziellen Lesart über den “nach Plan” verlaufenden Einsatz im Rahmen der „militärischen Spezialoperation“, wie der völkerrechtswidrige Angriffskrieg in Russland genannt wird, als das Verbreiten von „Fake News über die russische Armee“ gedeutet werden, die drakonisch bestraft werden können. Eine unabhängige Berichterstattung wird damit kaum mehr möglich, die letzten freien Medien haben kurze Zeit nach dem 24. Februar 2022 das Land verlassen oder wurden, wie „Echo Moskwy“ geschlossen.

Glukhovsky indes hat kein Blatt vor den Mund genommen und den Überfall Russlands auf die Ukraine immer wieder öffentlich kritisiert.

Auch in dem veröffentlichten Brief an das Gericht wird er deutlich:

„Seit Langem ist Russland nichts Zerstörerisches und Entmenschlichenderes passiert als der Krieg gegen die Ukraine. Mein Land hat ein anderes Land überfallen, das einst ein Bruderland war, ohne jeden Grund und Anlass. Es hat Panzer geschickt, um die ukrainische Hauptstadt einzunehmen. Es hat Flugzeuge geschickt, um ukrainische Städte zu bombardieren. Es hat unzählige Menschenleben vernichtet. Dutzende von Städten dem Erdboden gleichgemacht. Es hat entgegen jedem internationalen Recht ukrainische Gebiete annektiert und zu seinem Eigentum erklärt.“

Aufhorchen lässt Glukhovskys Brief indes aber auch aus rechtsphilosophischer Sicht. Glukhovsky beginnt seinen Brief mit der rhetorischen Frage, nach dem Sinn der Gesetze. Wozu dienen Gesetze?

„Gesetze dienen dazu, die Schwachen vor den Übergriffen der Starken zu schützen und die Starken vor der Versuchung, sich an den Schwachen zu vergreifen. Gesetze dienen dazu, Verbrecher zu bestrafen und neue Verbrechen zu verhindern. Dazu, das Schlechte im Menschen auszumerzen und das Gute blühen zu lassen“.

Die Verwirklichung von Gleichheit vor dem Gesetz, der Schutz der Rechtsgüter aller Bürger, die Generalprävention von Strafgesetzen sind anerkannte Gesetzeszwecke, die wir in der europäischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie finden. Diesen Maßstäben, schreibt Glukhovsky, wird das Recht in Russland aber nicht mehr gerecht.

„in Russland herrscht heute das Gesetz des Stärkeren. Mit Gewalt werden Menschen gebrochen, mit Gewalt wird das Gesetz gebeugt, um vor Gericht das Recht zu erpressen, die Schwachen weiterhin zu brechen und das Gesetz weiterhin nach Belieben zu beugen. Das ist der Grund, warum in Russland menschenfeindliche Gesetze erlassen werden. (…)”

Und weiter:

„Die Staatsmacht zwingt uns in kürzester Zeit den Glauben auf, dass das unvorstellbar Böse normal und wünschenswert ist. Sie zwingt uns, die Grundprinzipien der Moral zu vergessen, die uns unsere Eltern von Klein an beibringen. Sie gewöhnt uns an die Lüge und ans Morden.“

Es gibt, so Glukhovskys, keine Rechtfertigung für den russischen Krieg gegen das Nachbarland.

„Dieser Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Sein Grauen und seine Sinnlosigkeit sind zu offensichtlich. Aber die, die ihn entfesselt haben – Wladimir Putin und sein engstes Umfeld – können nicht zurück. Denn nach allen Gesetzen der Menschlichkeit sind sie echte Verbrecher und fürchten deswegen die Strafe für diese Verbrechen.“

Die Argumentation läuft letztlich darauf hinaus, was die Konsequenz sein muss, wenn geltendes Recht tatsächlich Unrecht ist:

„Wenn ein Gesetz erlassen wird, das von mir verlangt, unschuldige Menschen zu töten, dann ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ein Gesetz erlassen wird, das von mir verlangt, das Töten unschuldiger Menschen zu vertuschen, ist es meine Pflicht, dieses Gesetz zu brechen. Wenn ein Gesetz erlassen wird, das verbietet, die Wahrheit darüber zu sagen, dass andere unschuldige Menschen töten – ein solches Gesetz sollte niemand befolgen.“

Zugespitzt argumentiert Glukhovsky, dass bestimmte jüngste russische Gesetze gebrochen werden müssen, das sei geradezu Pflicht. Die Staatsmacht zwinge die Bürger mit ihren Gesetzen, die „Grundprinzipien der Moral“ zu vergessen. Solche Gesetze dürften nicht befolgt werden. Das betrifft insoweit die Bürger, aber, da Glukhovsky seinen Brief direkt an das Gericht adressiert, auch den Richter.

Damit stellt sich letztlich die Frage der Geltung von „unrechten Gesetzen“. Die Gründe, mit denen Glukhovsky argumentiert, sind nicht neu. Mit dieser Frage hatte sich die Bundesrepublik gleich mehrfach auseinandersetzen müssen. Der russische Angriffskrieg und seine rechtlichen Auswirkungen in Russland scheinen einem bekannten deutschen Rechtsphilosophen abermals zu neuer Aktualität zu verhelfen: Gustav Radbruch.

Gustav Radbruch (1878-1949), geboren in Lübeck, war nach Dissertation und Habilitation ab 1914 außerordentlicher Professor an der Universität Königsberg, wechselte nach dem ersten Weltkrieg an die Universität Kiel. Kurz darauf zog er für die SPD in den Reichstag ein und wirkte während der „Weimarer Republik“ als Reichsjustizminister in den Kabinetten Wirth und Stresemann. Im Jahre 1926 wechselte er als Professor an die Universität Heidelberg, wo er schließlich 1933 von den Nationalsozialisten durch das „Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er 1945 wieder als Professor in Heidelberg eingesetzt; er verstarb nach schwerer Krankheit am 23. November 1949. Gustav Radbruch gehört zu den wenigen nicht emigrierten oder vertriebenen Juristen, die sich während der NS-Zeit nichts haben zuschulden kommen lassen und die an ihrer Integrität keinen Zweifel aufkommen ließen(fn).

Weithin bekannt wurde Radbruch mit einem kleinen Artikel für die „Süddeutsche Juristenzeitung“ im Jahr 1946. In seinem Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht(fn)“ befasste sich Radbruch mit dem Konflikt zwischen Rechtssicherheit, Rechtsgeltung und Gerechtigkeit. Dabei bezieht er sich auf bekannt gewordene strafgerichtliche Entscheidungen gegen NS-Denunzianten und Scharfrichtergehilfen, die an Hinrichtungen in der NS-Zeit mitgewirkt hatten. Die Angeklagten hatten sich darauf berufen, seinerzeit im Einklang mit den gültigen Gesetzen im Nationalsozialismus gehandelt zu haben, sich mithin nicht strafbar gemacht zu haben. Die Frage war, ob „unrechte Gesetze“ Geltung beanspruchen und begangene Handlungen rechtfertigen oder entschuldigen können.

Die rechtspositivistische Faustformel „Gesetz ist Gesetz“ lässt Radbruch nicht mehr ohne weiteres gelten. Der Grundsatz, schreibt er, „war der Ausdruck des positivistischen Rechtsdenkens, das durch viele Jahrzehnte fast unwidersprochen die deutschen Juristen beherrschte. Gesetzliches Unrecht war deshalb ebenso wie übergesetzliches Recht ein Widerspruch in sich“. Unter Bezugnahme auf die von ihm zitierten Strafrechtsfälle statuiert Radbruch, „dass unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Unrechts und des übergesetzlichen Rechts der Kampf gegen den Positivismus aufgenommen“ wurde. Und weiter:

„Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung »Gesetz ist Gesetz« den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts. Dabei ist der Positivismus gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen.“

Rechtssicherheit, so Radbruch, ist nicht der „einzige und nicht der entscheidende Wert, den das Recht zu verwirklichen hat“. Hinzutreten müßten nämlich noch zwei weitere Zwecke, die der Zweckmäßigkeit und der Gerechtigkeit. Den Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit löst Radbruch dann in einem Vorrang des positiven Rechts, auch „wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist“. Die Grenze findet diese Vorrangsregel aber dann, wenn

„der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als »unrichtiges Recht« der Gerechtigkeit zu weichen hat.“

Dort,

“wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur »unrichtiges Recht«, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“

Die Unterträglichkeitsthese und die Verleugnungsthese sind Bestandteile der bekannten „Radbruchschen Formel“. Auf das NS-Recht angewandt folgerte Radbruch, dass weite Teile des NS-Rechts, „ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt“ seien. Es kann, so schreibt Radbruch an anderer Stelle in seinen „Fünf Minuten Rechtsphilosophie(fn)“ Gesetze „mit einem solchen Maß von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß“. Solchem Recht hat letztlich auch der Richter aus Gründen der Gerechtigkeit die Gefolgschaft zu versagen(fn).

In der Konsequenz können Gesetze, wie es sie in der NS-Zeit gab, dann auch nicht als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe für das Handeln in dieser Zeit sein. Den durchschlagenden Erfolg und die Prominenz der „Radbruchschen Formel“ sieht der Verfassungsrechtler Horst Dreier darin, daß sie „einer berechtigten Abscheu vor den einschlägigen nationalsozialistischen Gesetzen Ausdruck zu verleihen vermochte“ und Radbruchs Sätze eine „adäquate rechtsphilosophische Antwort der Nachkriegszeit auf die überwundene nationalsozialistische Diktatur(fn)“ war.

Im Verlauf der Nachkriegszeit verlor die „Radbruchsche Formel“ ein Stück weit an Aktualität bis sie im Zusammenhang mit den Prozessen gegen die sogenannten „Mauerschützen“, Soldaten der DDR-Grenztruppen, die vom Schießbefehl gegen flüchtende DDR-Bürger Gebrauch machten, erneute Beachtung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts(fn) fand. Die Verurteilung der „Mauerschützen“ wegen Totschlages erfolgte, weil sie sich nicht auf die gesetzlichen Rechtfertigungstatbestände der DDR-Gesetze berufen konnten. Diesen wurde die Geltung versagt, die DDR-Grenzsoldaten konnten nicht auf die Geltung der Gesetze vertrauen. In seinem Leitsatz schrieb das BVerfG „An einer solchen besonderen Vertrauensgrundlage fehlt es, wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet.“

Die Fachgerichte hätten in ihren Urteilen letztlich auch dargelegt, „dass die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer sei unter den festgestellten Umständen ein derart schreckliches und jeder möglichen Rechtfertigung entzogenes Tun gewesen, daß der Verstoß gegen Verhältnismäßigkeit und elementares Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig und damit offensichtlich war.(fn)“. Im Ergebnis waren die Strafurteile der Fachgerichte verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden

Die Argumente, die Dmitry Glukhovsky in seinem Schreiben an das Moskauer Gericht anführt, sind daher an sich nicht neu. „Unrichtiges Recht“ soll der Gerechtigkeit weichen. Gesetze „mit einem solchen Maß von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit“ können Rechtscharakter gar nicht erst erlangen, Richter haben ihnen die Gefolgschaft zu versagen.

Es ist ein verheerendes Zeugnis für den Zustand des russischen Rechts, dass sich Radbruchs Überlegungen auch hier aktuell wieder stellen.

Last Updated on 14. April 2023 by Lupo


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