Aufgelesen: Lupos Leseliste #21

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Vergessen im Schatten der Geschichte – Der Warschauer Aufstand und die deutsche Erinnerungskultur

Am 1. August 1944 erhob sich die polnische Heimatarmee in Warschau gegen die deutsche Besatzung – ein Akt verzweifelten Mutes, der in einer beispiellosen Tragödie endete. Innerhalb von 63 Tagen töteten deutsche Wehrmachtseinheiten und SS rund 200.000 Zivilisten und zerstörten die Stadt systematisch. Der Warschauer Aufstand ist eines der grausamsten Kapitel deutscher Kriegsverbrechen – und doch bleibt er im kollektiven Gedächtnis Deutschlands bis heute nahezu unsichtbar.

Der Artikel in der WELT beschreibt eindrücklich diese Erinnerungslücke: Während in Polen der Aufstand tief im nationalen Bewusstsein verankert ist und jährlich mit Sirenen, Schweigeminuten und landesweiten Gedenkfeiern begangen wird, bleibt die deutsche Öffentlichkeit größtenteils still. Selbst in politischen Kreisen wird das Ereignis selten thematisiert, häufig verwechselt – etwa mit dem jüdischen Ghettoaufstand von 1943 – oder schlicht übergangen.

Eine Gedenkveranstaltung, organisiert unter anderem vom Pilecki-Institut, vor der polnischen Botschaft in Berlin, an der gerade einmal 200 Menschen teilnahmen, verdeutlicht den Kontrast zwischen deutscher Selbstwahrnehmung und polnischer Erinnerung. Der Artikel mahnt, dass Gedenken nicht bei symbolischen Gesten stehen bleiben dürfe. Es brauche institutionalisierte Formen der Erinnerung: in Schulen, durch feste Gedenktage, politische Reden und kulturelle Aufarbeitung. Denn ohne historische Empathie und Verantwortungsbewusstsein ist keine echte Versöhnung möglich.

Der Warschauer Aufstand sollte – gerade aus deutscher Sicht – nicht nur ein polnisches Trauma bleiben, sondern Teil eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses werden. Erinnerung ist kein Geschenk, sondern eine Verpflichtung.

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Zwischen Diktatur und Ideologie: Wie faschistoid ist der Putinismus?

Der Politikwissenschaftler Andreas Umland fragt in seinem Gastkommentar für Die Presse, ob der Putinismus – also das autoritäre Herrschaftssystem Wladimir Putins – als eine Form des Faschismus bezeichnet werden kann. Dabei differenziert er zwischen verschiedenen Ebenen, auf denen der Begriff „Faschismus“ aktuell im Kontext Russlands verwendet wird: als historische Analogie, als politische Chiffre und als wissenschaftliche Klassifizierung.

Umland betont zunächst, dass der Begriff „Faschismus“ im öffentlichen Diskurs oft als moralisch stark aufgeladene Metapher dient. Besonders in der Ukraine hat sich der Begriff „Raschismus“ – ein Kunstwort aus „Russland“ und „Faschismus“ – etabliert. Dieser Begriff ist Ausdruck kollektiver Traumatisierung durch den brutalen Angriffskrieg und die Besatzungspraxis Russlands, soll internationale Aufmerksamkeit wecken und politische Mobilisierung ermöglichen. Gleichzeitig fungiert er als emotionaler Gegenbegriff zu russischer Propaganda, die der Ukraine ihrerseits „Nazismus“ vorwirft.

Auf wissenschaftlicher Ebene sieht Umland eine vorsichtige Zurückhaltung vieler Historiker und Politologen gegenüber einer Gleichsetzung des Putinismus mit klassischen faschistischen Regimen wie dem Nationalsozialismus oder dem italienischen Faschismus. Zwar weist das gegenwärtige Russland autoritäre Strukturen, einen stark ausgeprägten Führerkult, aggressive Expansion und nationalistische Mobilisierung auf – zentrale Elemente also, die an faschistische Systeme erinnern. Auch die Politik in den besetzten ukrainischen Gebieten, die auf Zwangsumsiedlung, Russifizierung und kulturelle Umerziehung zielt, erinnert in ihrer Radikalität an totalitäre Transformationsstrategien.

Dennoch, so Umland, fehlt dem Putinismus eine Reihe konstitutiver Merkmale historischer Faschismen: etwa der revolutionäre Gestaltungsanspruch, die Mobilisierung durch eine breite Massenbewegung und eine klar definierte ideologische Vision von einer „Neugeburt“ der Nation. Putin verfolgt eher restaurative Ziele – die Rückkehr zur imperialen Größe Russlands –, nicht aber die Erschaffung eines neuen Gesellschaftsmodells. Das Regime stützt sich zudem weniger auf eine organisierte Volksbewegung als auf Passivität, Kontrolle und Repression.

Umland kommt daher zu dem Schluss, dass der Faschismusbegriff im Zusammenhang mit dem Putinismus als heuristisches Werkzeug durchaus nützlich ist, um alarmierende politische Entwicklungen zu benennen. Eine direkte Gleichsetzung mit historischen Faschismen sei jedoch analytisch verkürzt. Er plädiert für eine differenzierte Betrachtung: Der Begriff „Faschismus“ kann helfen, autoritäre Dynamiken und kriegerische Gewaltpolitik zu kontextualisieren, sollte aber nicht als universale Schablone dienen.

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Sibirien als koloniale Peripherie Russlands – Sergei Lebedews Anklage

In seinem essayistischen Beitrag „Sibirien gibt es nicht: Russlands Nordosten ist eine Kolonie“ entwirft Sergei Lebedew in der NZZ ein radikales Gegenbild zur etablierten russischen Selbstwahrnehmung von Sibirien: Nicht als heroisch erschlossenes Neuland, sondern als jahrhundertelang kolonial unterworfenes und ausgebeutetes Territorium. Lebedew, einer der profiliertesten zeitgenössischen russischen Schriftsteller, rückt die verdrängte Geschichte der Gewalt, Enteignung und kulturellen Zerstörung in den Fokus – und macht sichtbar, was bis heute ein Tabu im russischen Diskurs bleibt.

Sibirien, so Lebedew, ist in der russischen Vorstellung primär ein geografischer Raum – weit, leer, geschichtslos. Bereits als Kind internalisierte er die imperialen Narrative: Sibirien sei Niemandsland gewesen, das rechtmäßig erschlossen worden sei. Die ursprünglichen Bewohner – indigene Völker wie die Ewenken oder Jakuten – kamen in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht vor. Dass sie kolonial unterworfen und enteignet wurden, blieb ebenso unsichtbar wie ihr Widerstand.

Zentrales Argument Lebedews ist, dass die russische Expansion nach Osten, ebenso wie die europäische Eroberung Amerikas, eine Kolonisation war – mit all ihren Begleiterscheinungen: Gewalt, Zwang, kultureller Überformung. Doch während die westliche Welt zumindest partiell koloniale Verbrechen reflektiert, hat Russland nie ein postkoloniales Bewusstsein entwickelt. Vielmehr ist der Mythos vom heroischen Vordringen gegen eine unzähmbare Natur bis heute dominierend.

Im 20. Jahrhundert erhielt diese koloniale Logik neue Kraft: Die Sowjetunion nutzte Sibirien als Rohstofflager und als Lagerlandschaft. Die indigenen Völker wurden entrechtet, kollektiviert, ihre Kulturen zerstört. Der Gulag steht in diesem Zusammenhang nicht nur für politischen Terror, sondern auch für eine innere Kolonisierung, deren Opferperspektive bislang fast ausschließlich aus Sicht der verschleppten Russen erzählt wird – nicht aus der der lokalen Bevölkerung.

Bis in die Gegenwart wirkt dieses System fort. Sibirien bleibt eine Ressourcenkolonie, deren Öl- und Gasvorkommen das wirtschaftliche Fundament von Putins autoritärem Regime bilden. Die indigene Bevölkerung wird weiterhin marginalisiert – heute etwa als Soldaten für den Krieg gegen die Ukraine rekrutiert. Ihre Sprachen und Kulturen sind durch Russifizierung bedroht.

Doch Lebedew sieht auch eine mögliche Zeitenwende: Der Klimawandel, der den Permafrost auftaut und die Infrastruktur zerstört, könnte den kolonialen Zugriff auf Sibirien in Frage stellen. Eine echte Föderalisierung Russlands, die den Völkern Sibiriens Kontrolle über ihre Ressourcen gewährt, könnte den Weg in eine deimperialisierte Zukunft weisen – und das „eingefrorene“ Sibirien endlich historisch und politisch auftauen.

Lebedews Essay ist ein eindringlicher Appell an die russische Gesellschaft, sich der verdrängten Geschichte ihrer inneren Kolonien zu stellen. Es ist zugleich ein Plädoyer für eine postimperiale Neuvermessung des russischen Selbstbildes – und für Gerechtigkeit gegenüber jenen, deren Stimmen bis heute ungehört bleiben.


Last Updated on 3. August 2025 by Lupo


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