Alexandr Osipian beleuchtet in einem umfangreichen und detaillierten Aufsatz in der Zeitschrift Osteuropa die komplexen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im ukrainischen Donbass zwischen der Unabhängigkeit 1991 und dem bewaffneten Aufstand 2014. Dabei zeichnet er nach, wie aus einer stolzen sowjetischen Industrieregion ein Schauplatz separatistischer Gewalt werden konnte.
Zerbrochene Identität einer Industrieregion
Der Donbass war in der Sowjetunion das Paradebeispiel erfolgreicher sozialistischer Modernisierung – eine “Hochburg des Proletariats”, deren Arbeiter sich als Avantgarde des technischen und sozialen Fortschritts begriffen. Diese kollektive Identität zerbrach jedoch mit dem Übergang zur Marktwirtschaft in den 1990er Jahren. Massenarbeitslosigkeit, Deindustrialisierung und der Verlust des sozialen Prestiges der Industriearbeit führten zu einer tiefen Identitätskrise. Während in der offiziellen ukrainischen Erinnerungspolitik der Donbass als Beispiel für Moskaus kolonisatorische Repressionspolitik galt, hielten die Menschen vor Ort an ihrem industriellen Stolz fest.
Paternalistische Politik der Partei der Regionen
In den 2000er Jahren versuchte die Partei der Regionen unter Viktor Janukovyč, diese regionale Identität zu erneuern. Sie setzte auf paternalistische Politik, errichtete Denkmäler für britische Industriepioniere wie John Hughes und förderte den Fußballverein Šachtar Donezk als Symbol einer neuen postindustriellen Identität. Gleichzeitig kultivierte die Partei das Selbstbild des Donbass als wirtschaftliches Rückgrat der Ukraine, das von den Kiewer Bürokraten ausgebeutet werde.
Paradoxerweise wurde die Partei der Regionen jedoch zur Wegbereiterin der späteren populistischen Mobilisierung: Durch die Eliminierung jeglicher politischen Konkurrenz entstand ein Einparteiensystem. Als Janukovyč 2014 stürzte, gab es keine alternativen politischen Kräfte, die das entstehende Machtvakuum hätten füllen können.
Netzwerk der prorussischer Akteure
Osipian identifiziert die entscheidenden Akteure, die den Boden für den Aufstand bereiteten: Die Russische Orthodoxe Kirche verbreitete antiwestliche und antiliberale Narrative und betrachtete den Donbass als Teil der “Russischen Welt”. Die Donkosaken, die in der Sowjetunion als Verräter galten, erlebten eine Renaissance als paramilitärische Gruppe im Dienste Moskaus. Marginale politische Gruppierungen wie Natalija Vitrenkos Progressive Sozialistische Partei (PSPU) und Viktor Medvedčuks “Ukrainische Wahl” propagierten fremdenfeindliche und klerikale Positionen.
Besonders bedeutsam war die Anti-Fracking-Bewegung um 2013, die Proteste gegen die geplante Schiefergasförderung organisierte. Diese Bewegung schuf erstmals Netzwerke politischen Engagements in einer ansonsten atomisierten Gesellschaft und bildete später den Kern des separatistischen Aufstands in Slovjansk.
Kontrollverlust und die Machtübernahme der Radikalen
Als Janukovyč im Februar 2014 floh, versuchten die regionalen Eliten zunächst, die neue Kiewer Regierung zu erpressen, indem sie den prorussischen Aktivitäten tatenlos zusahen. Sie verloren jedoch schnell die Kontrolle über die Ereignisse. Zwischen Mai und Juli 2014 verließen die meisten Unternehmer und hochrangigen Beamten die Region, als bewaffnete Aufständische unter russischer Führung die Macht übernahmen.
Die tatsächliche Unterstützung für den Aufstand war begrenzt: Laut Umfragen vom April 2014 waren nur etwa 12 Prozent der Bevölkerung erklärte Separatisten, während rund 60 Prozent politisch passiv blieben. Die Initiative ergriffen lokale Randgruppen und Kriminelle sowie aus Russland eingeschleuste Abenteurer und Nationalisten wie Igor Girkin (Strelkov).
Eine perfekte Krise
Der Aufstand im Donbass war das Ergebnis einer perfekten Krise: Eine seit den 1990er Jahren andauernde Identitätskrise traf auf das Machtvakuum nach Janukovyčs Sturz, während gut organisierte prorussische Netzwerke bereitstanden, dieses Vakuum zu füllen. Die jahrelange Eliminierung politischer Alternativen durch die Partei der Regionen hatte die Gesellschaft so weit atomisiert, dass keine demokratischen Kräfte mehr existierten, die den radikalen Gruppen hätten Widerstand leisten können.
Osipians Analyse zeigt, dass der Aufstand weder spontan noch von einer breiten Volksbewegung getragen war, sondern das Ergebnis langjähriger russischer Einflussnahme durch kirchliche, paramilitärische und politische Strukturen war, die in einer kritischen Situation aktiviert werden konnten.

Last Updated on 3. August 2025 by Lupo
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