Pünktlich zum Beginn der Frankfurter Buchmesse gab die Stadt Düsseldorf am Montag bekannt, dass der diesjährige Heinrich-Heine-Preis der Stadt an den ukrainischen Schriftsteller und Übersetzer Jurij Andruchowytsch verliehen wird. Der Heine-Preis zählt zu den bedeutendsten Literatur- und Persönlichkeitspreisen in Deutschland und wird seit 1972 verliehen; er ist mit 50.000 Euro dotiert. Die Preisverleihung soll im Dezember erfolgen, ein genauer Termin steht noch nicht fest.
Die Jury begründete ihr Votum damit, dass Andruchowytsch als führender ukrainischer Romancier, Lyriker und Essayist unserer Zeit über die Lage des Individuums in der mitteleuropäischen Geschichte und Gegenwarte schreibe.
Dabei übt er scharfe Kritik an Übergriffen von Geheimdiensten, Militär und Justiz. Der Sinn für Ironie und das Groteske kennzeichnen sein Werk in bester Heinescher Tradition. Dabei spielt er mit literarischen Formen und überschreitet die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Jurij Andruchowytsch setzt sich leidenschaftlich für den europäischen Gedanken ein und vertritt die Identität der Ukraine als Kulturnation. Er erinnert Europa daran, dass Freiheit und Menschenrechte in der Ukraine in vorderster Linie verteidigt werden.
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In der Tat hat Andruchowytsch mit seiner “Geopoesie” schon Anfang der 2000er Jahre in seinen Essays die Ukraine als Teil der europäischen Familie und Wertegemeinschaft verortet, als das Land nach der Loslösung von der Sowjetunion sich zwischen Russland und dem Westen zu verlieren drohte. Mit der postsowjetischen Realität in der Ukraine der späten 90er und frühen 2000er Jahre setzte er sich in seinen Essays kritisch und ironisch auseinander. In seinem Essayband “Engel und Dämonen der Peripherie” (2007) schreibt er über seine “Grenzerfahrungen” und denkt darüber nach, wo die Ukraine eigentlich liegt und was sie ist: Ein kleiner russischer Hinterhof oder ein Land in einer “Grauzone guter Nachbarschaft” mit der Europäischen Union. Fünfzehn Jahre später scheinen sich die aufgeworfenen Fragen in seinem Sinne zu klären.
Nach den rauschhaften politischen Veränderungen Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre erschien die nahe Zukunft so vielversprechend, dass man auch solche Wunder wie die komplette Wiederaufnahme des “Warschauer Zuges” erwarten konnte. Mehr noch, eine Wiederaufnahme auf einer anderen zivilisatorischen Grundlage: völlige Reisefreiheit und intensive, dynamische Kontakte. Und was dabei besonders attraktiv schien – die Möglichkeit für Polen und die Ukraine, harmonisch im Duett zu spielen. Doch die Ukraine erwies sich als zu groß, zu widersprüchlich, zu schwerfällig für so ein Spiel. Mit anderen Worten, es ging über ihre Kräfte (und schien vielen ihre Bewohner auch nicht wünschenswert), auf die europäische Spurbreite zu wechseln.
Die beiden großen Revolutionen, die “Orangene Revolution” (2004) und die “Revolution der Würde” (Euromaidan, 2014) unterstützte er nach Kräften und beklagte zugleich eine mangelnde Unterstützung aus dem westlichen Europa. Er veröffentlichte dazu den Sammelband “Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht” mit zahlreichen weiteren ukrainischen Intellektuellen, welche die Geschehnisse im ganzen Land kommentierten und sich über die Auswirkungen und den weiteren Weg des Landes Gedanken machten.
Nicht nur seine Essays sind uneingeschränkt empfehlenswert, sondern auch seine Romane, allen voran die Moscoviada (2006), ein Tour-de-Force-Ritt durch Moskau als Hauptstadt des untergehenden Sowjetimperiums.
Jurij Andruchovytsch wurde 1960 in Ivano-Frankivk in der West-Ukraine geboren, studierte in Lviv (Lemberg) und belegte Literaturkurse am Maxim-Gorki-Institut in Moskau. Er promovierte 1994 über den ukrainischen Nationaldichter Bohdan-Ihor Antonytsch
Die Frankfurter Buchmesse endet übrigens diese Woche mit der Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan.
Last Updated on 24. October 2022 by Lupo
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