Aufgelesen: Lupos Lesewoche #11

Lesedauer 4 Minuten

Während sich der völlig überfüllte RegionalExpress die an der Nahe entlang schlängelt, verbleibt ein wenig Zeit, die aktuelle Lesewoche zusammenzustellen.

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Der Krieg in der Ukraine ist wieder um seine sinnlose Debatte reicher. Ja, die Ukraine darf auch mit westlichen Waffen auf russisches Territorium zurückschießen, weil und wenn sie von dort angegriffen wird. Das ist eine völkerrechtliche Selbstverständlichkeit und leuchtet eigentlich auch jedem klar denkenden Menschen ein – es bedurfte jedoch wiederum zahlloser Opfer und mehrere Wochen, bis das Thema geklärt wurde.

Deutschland hat sich in Person von Olaf Scholz dabei wieder maximal blamiert. Sechzehn Stunden, bevor die Bundesregierung ihre Entscheidung bekannt gab, der Ukraine zu gestatten, mit den von Deutschland gelieferten Waffen auch auf russisches Territorium schießen zu dürfen, versuchte Olaf Scholz in gewohnter Manier das Thema wieder abzuräumen.

„Eine absurde Debatte“ sei das und wir werden das nicht machen, erklärte Scholz. Einen Tag später machte er es dann.

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„Durch seine zerstörerische Außenpolitik sowie durch die Erschaffung einer propagandistischen Parallelwelt, in der die wahren Sachverhalte buchstäblich auf den Kopf gestellt werden, hat Putin Russland innerhalb kürzester Zeit aus der Moderne, zu deren Wesen der permanente Diskurs gehört, quasi herauskatapultiert“, schreibt Leonid Luks auf diekolumnisten.de . Russland kehrt mit Putin nun in seinen vorpetrinischen Zustand zurück.

Die im Jahr 2000 vollzogene autoritäre Wende wurde in Russland in einem immer stärkeren Ausmaß durch die Abkehr von den europäischen Ideen und durch die Liebeserklärung der Kreml-Führung an die eigene Nation begleitet. Russland gilt nun für die Verfechter der Putinschen „gelenkten Demokratie“ als Hort der traditionellen Werte, die vom „dekadenten“ Westen angeblich verraten worden seien. Durch ihre Selbstbeweihräucherung verzichten die Moskauer Russozentristen ausdrücklich auf das Vermächtnis Peters des Großen, der die russische Kultur gegenüber der Außenwelt öffnete. Insbesondere nach der „Zeitenwende“ vom 24. Februar 2022 intensivierten sich die antiwestlichen Ressentiments im Lager der russischen Verfechter der bestehenden Ordnung.

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Artur Weigandt schreibt in der FAZ über den Poesieabend im Kyiver Sportpalast, in den der ukrainische Autor Serhij Zhadan geladen hatte, zur Präsentation seiner Lyriksammlung „Alle Gedichte“, heißt es offiziell. Inoffiziell möchte er jedoch 8000 Menschen zu einem Poesieabend versammeln, um zu beweisen, dass Ukrainer lesen, dass die ukrainische Poesie ihr eigenes Publikum, ihren eigenen Raum und ihre eigene Haltung hat.

Er blickt ins Publikum und schweigt gemeinsam mit der Menge. Diese Sekunden fühlen sich an wie eine Schweigeminute für all diejenigen, die im Krieg gefallen sind. „Die Sonne spiegelt sich im Fluss als rote Koralle“, trägt er weiter vor. „Der Sommer geht zu Ende. Es riecht nach Rauch und Honig. Es riecht nach verbranntem Weizenfeld“, beschließt er sein Gedicht und blickt zu Boden. Dunkelrotes Licht erfüllt den Raum, als blutete die Luft.

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Die hybride Kriegsführung Russlands gegen den Westen nimmt an Intensität zu. Die Realität, auch was die Ziele Russlands über die Ukraine hinaus betrifft, liegen mittlerweile klar zu Tage. Das Baltikum soll das nächste Ziel sein und während man dort und in Polen sich der Realität stellt (was man in Bezug auf den aggressiven Nachbarn dort stets getan hat), herrscht in Deutschland eine kollektive Realitätsverweigerung vor. Richard Herzinger geht in seinem lesenswerten Essay über die Verlogenheit vermeintlicher Friedensfreunde den Ursachen nach.

Doch wer klar ausspricht, dass wir im Krieg sind, tut dies nicht, wie verlogene vermeintliche Friedensfreunde in denunziatorischer Absicht unterstellen, weil er oder sie sich Krieg wünschte. Sondern im Gegenteil, weil diese realistische Einschätzung die Voraussetzung dafür ist, einen noch viel größeren Krieg zu verhindern. Manès Sperber, der große antitotalitäre Schriftsteller und humanistische Denker, hat in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenpreises des Deutschen Buchhandels 1983 im Blick auf die sowjetische Bedrohung das Dilemma der friedliebenden Demokratien auf den Punkt gebracht: „Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren.“

Last Updated on 2. Juni 2024 by Lupo


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