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Vor aller Augen

Lesedauer 3 Minuten

Manchmal sind es schon die ersten Zeilen eines Buches, die einen packen und zugleich ratlos machen. Während man der Bevölkerung in Deutschland noch mit Slogans wie “Wandel durch Handel” Glauben machen wollte, Russland werde schon noch zu einer stabilen Demokratie werden und sein Präsident sei ein “lupenreiner Demokrat”, schrieb der russische Philosoph Michail Ryklin ein Essay über seine Erlebnisse mit der russischen Justiz, nachdem ein religiöser Mob eine von seiner Frau mitorganisierte Kunstausstellung “Achtung, Religion” gestürmt und zerstört hatte. Die folgenden Prozesse richteten sich dann nicht etwa gegen die Randalierer, sondern gegen die Veranstalter der Ausstellung, die religiöse Gefühle verletzt haben sollen.

Das Essay mit dem Titel “Mit dem Recht des Stärkeren. Die russische Kultur in Zeiten der ‘gelenkten Demokratie’ ” erschien in Deutschland im Jahre 2007. Es sind diese offenliegenden Zeugnisse, die unseren damaligen (und heutigen) Politikern nie aufgefallen sind, als sie sich mit Putin umgaben und Verträge mit ihm schlossen.

Wir hatten keine Erfahrung mit dem Leben unter einem neu entstehenden politischen Regime. Die Entwicklungsjahre der UdSSR fielen in die Jugend unserer Großeltern; wir selbst waren in einer geschlossenen, aber ziemlich vorhersagbaren Gesellschaft aufgewachsen, wo nach bekannten Regeln gespielt wurde. Seit Gorbatschows Politik der Glasnost und Perestrojka gab es Hoffnung auf eine langfristige europäische Entwicklung – demokratische Strukturen, verbindliche rechtsstaatliche Normen, kulturelles Leben fern von jeglicher Gängelung -, eine Hoffnung, die auch noch während der chaotischen Transforma-tionsphase der neunziger Jahre fortdauerte. Heute aber leben wir in einer veränderten Situation. Wir sind Zeugen eines Prozesses, in dem sich ein neuer Autokratismus etabliert.

Entstehende Regime zeichnen sich dadurch aus, daß selbst ihre unmittelbar bevorstehenden Metamorphosen schwer vorauszusehen sind; weil die Präzedenzfälle fehlen, lassen sich keine Vergleiche anstellen. Ständig werden wir von den Ereignissen überrollt, und kaum haben wir aufgeholt, laufen sie uns wieder davon. Auf jeder Windung der Spirale widerfährt uns etwas Neues, Unerwartetes. Wir versuchen uns an Dinge zu gewöhnen, die noch vor kurzem unmöglich, undenkbar schienen. Doch eine Woche vergeht, und es zeichnet sich noch Unvorstellbareres ab. Solche Erlebnisse haben repressiven Charakter. Die Gewöhnung daran nimmt uns einen Teil unserer geistigen Welt, unserer Freiheit.

Wenn der seinerzeitige Kanzleramtschef, Außenminister und heutige Bundespräsident Steinmeier zu Protokoll gibt, “Das wirklich Traurige ist, dass wir in vielen Punkten gescheitert sind” und an anderer Stelle “Die bittere Bilanz: Wir sind gescheitert mit der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in das Russland einbezogen wird. Wir sind gescheitert mit dem Ansatz, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden.“ – dann ist das wohlfeil. Das Russland spätestens seit Putins Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 daran kein Interesse mehr hatte, lag offen zu tage, es gab die Angriffe auf Georgien, die Annexion der Krim, der Einmarsch im Donbas und schließlich der Großangriff auf die gesamte Ukraine.

Es ist eben nicht so, wie der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich behauptet hat, dass die über Jahre zunehmende repressive autokratische Innenpolitik nur in Fachzeitschriften erörtert worden ist und ihm und der Allgemeinheit verborgen blieb. Putin hat seine Kursänderung vor aller Augen vorgenommen, nur hat man im Westen die Augen fest verschlossen.



Geschrieben aus Frankfurt am Main, Altstadt, Deutschland.

Last Updated on 22. März 2024 by Lupo


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