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Kognitive Dissonanz

Lesedauer 3 Minuten

Kognitive Dissonanz, schreibt Wikipedia, bezeichnet in der Sozialpsychologie einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der dadurch entsteht, dass ein Mensch unvereinbare Kognitionen hat (z. B. Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten). Kognitionen sind mentale Ereignisse, die mit einer Bewertung verbunden sind.

Zwischen diesen Kognitionen können Konflikte („Dissonanzen“ genannt) entstehen. Kognitive Dissonanz, so das Standardlehrbuch zur Sozialpsychologie, ist ein aversiver Zustand, der Individuen dazu motiviert, ihn abzubauen. Das könnte den Verantwortlichen der Berliner Staatsoper am Freitag widerfahren sein.

Dekorierte Berliner Staatsoper

Am Freitag trat zum ersten Mal nach dem großangelegten russischen Angriffskrieg auf die Ukraine die russische Sängerin Anna Netrebko wieder auf der Bühne der Berliner Staatsoper in Giuseppe Verdis “MacBeth” auf. Kurz nach dem 24. Februar 2022 wurden die Auftritte von ihr weltweit abgesagt, man ging auf Distanz. Anna Netrebko ist aufgrund ihrer politischen Haltung mittlerweile, vorsichtig ausgedrückt, umstritten. Netrebko unterstützte aktiv Putins Wiederwahl in 2012. Die mutmaßlich gefälschte Wahl Putins löste russlandweit Proteste aus, Hunderttausende gingen auf die Straße. Zwei Jahre später, in 2014, nach der russischen Annexion der Krim traf sich Netrebko mit einem militanten “Separatistenführer” samt Flagge des Pseudostaats “Noworossija” zu einem Fototermin. Sie spendete an das Opernhaus im russisch besetzten Donezk, ihren 50. Geburtstag feierte sie im Kreml. Es existieren Fotos von ihr in einem T-Shirt mit der Aufschrift “Nach Berlin” und dem St. Georgs-Banner, das auch im gegenwärtigen Angriffskrieg gegen die Ukraine Verwendung findet. Sie unterhält eine Patenschaft für ein SOS-Kinderdorf, in dem aus der Ukraine verschleppte Kinder untergebracht sein sollen.

An jenem Freitag sollte Anna Netrebko also wieder in Berlin singen dürfen, in einer Stadt, die gerade einen Tag zuvor ihre neue Städtepartnerschaft mit der ukrainischen Hauptstadt Kyiv feierlich ins Leben gerufen hatte. In einer kurzfristig ins Leben gerufenen Petition haben sich mehr als 37.000 Menschen gegen den Auftritt von Netrebko in Berlin ausgesprochen, einen offenen Brief der Organisation Vitsche-Berlin haben zahlreiche prominente Wissenschaftler und Kulturschaffende unterzeichnet, fast 40 Vereine und Organisationen aus dem Zivilleben sind dabei. Sowohl der Regierende Bürgermeister von Berlin, als auch sein Kultursenator sprachen sich ebenso gegen die Veranstaltung aus, der Kultursenator besuchte demonstrativ mit dem ukrainischen Botschafter Makeiev die Ausstellung über russische Kriegsverbrechen, die direkt gegenüber der Staatsoper stattfindet.

Protest vor dem Konzert in Berlin

Das alles hat den Intendanten der Berliner Staatsoper, Matthias Schulz, nicht weiter gestört. Er hielt an dem Auftritt fest. Ein halbgares Statement zum Krieg von Netrebko, die den Krieg irgendwie nicht ganz so gut findet, hält er presse-öffentlich eine ausreichende Position. Auch wenn Netrebko auf einem zwischenzeitlich gelöschten Instagram-Posting die aus der Ukraine geflüchteten Demonstrantinnen als “heulende aggressive Meerjungfrauen mit künstlichen Blumen im Haar” bezeichnet hatte, hielt er eisern an ihr fest.

Vielleicht ist es mit dieser kognitiven Dissonanz zu erklären, dass irgendjemand in der Berliner Staatsoper auf die Idee kam, das Opernhaus anlässlich des Auftritts der umstrittenen russischen Sängerin mit ukrainischen Fahnen zu dekorieren. So wurde die ukrainische Fahne auf dem Dach des Opernhauses gehisst, zudem wurde ein Banner in ukrainischen Farben an der Vorderfront angebracht. Welche Symbolik das ausstrahlen sollte, ist schwer zu begreifen. Die Besucher des Konzerts, welche die Demonstranten mit dem Vogel-Zeichen oder dem Mittelfinger bedachten, dürften es wohl gar nicht bemerkt haben. Anna Netrebko dürfte es gänzlich egal gewesen sein. Für sie rollt der Rubel wieder.

Zeichen der Entschlossenheit und des Mutes, nicht der Feigheit: Jan C. Behrends in Berlin

Völlig zu Recht forderte Jan C. Behrends, Professor an der Frankfurter Viadrina, auf der Protestkundgebung den Intendanten auf, die ukrainischen Fahnen wieder einzurollen. Diese Fahne sei ein Zeichen des Mutes und der Entschlossenheit, nicht jedoch der Feigheit.

Und zur Bewältigung kognitiver Dissonanzen, in die man sich selbst hinein laviert hat, taugt sie ebenso wenig. Die Ukrainer in Berlin dürfen sich zu Recht verhöhnt fühlen.



Geschrieben aus Berlin, Mitte, Deutschland.

Last Updated on 27. Dezember 2023 by Lupo


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