Tragikkomische Bedeutung

Lesedauer 5 Minuten
In einem offenen Brief haben mehr als 70 deutsche Osteuropa- und Sicherheitsexperten einen härten Kurs der Bundesregierung gegenüber Russland gefordert.

Deutschland dürfe der aggressiven Außenpolitik des Kremls nicht länger tatenlos zusehen. Die aktuelle Krise an der Ostgrenze der Ukraine stelle auch eine Zäsur für die Sicherheit in Europa dar.

Dem Treiben des Kremls schaue die Bundesregierung zwar kritisch, aber letztlich tatenlos zu. Das müsse sich endlich ändern.

Der Angriff Putins auf die Ukraine im Jahr 2014 erscheint im Lichte der vorausgehenden 20-jährigen Passivität deutscher Politik gegenüber russischem Neoimperialismus als geradezu logische Konsequenz. Die populäre Formel von der “Annäherung durch Verflechtung” hat eine tragikomische Bedeutung erlangt. Es ist zu einer geografischen Annäherung des russischen Herrschaftsbereichs an die Grenzen der EU gekommen.

Die Russlandpolitik der Bundesrepublik müsse grundlegend korrigiert werden und auf den Prüfstand, heisst es in dem Brief weiter. Berlin schöpfe seine Einwirkungsmöglichkeiten auf Moskau bei weitem nicht aus.

Der offene Brief geht auf eine Initiative des Ukraine-Experten Andreas Umland, Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien zurück. Unterzeichnet haben unter anderem Volker Beck (Grüne), Ruprecht Polenz (CDU) und der Osteuropahistoriker Karl Schlögel.

Berlin muss seinen guten Worten weit mehr und effektivere Taten als bislang folgen lassen.


Offener Brief und Petition jetzt auf change.org
Deutschland muss tätig werden

Der offene Brief wurde von Alexander Umland auch auf change.org veröffentlicht. Jetzt auch die Petition unterschreiben. Für eine neue Russlandpolitik!


Der Aufruf anbei im Volltext:

Russlands Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung: Deutschland muss tätig werden

Massive, bedrohliche Truppenkonzentrationen an der Ost- und Südgrenze der Ukraine, verschärfte antiwestliche, vor Lügen nicht zurückschreckende Propagandaattacken sowie offenkundig unannehmbare Forderungen an die NATO und ihre Mitgliedstaaten: Russland stellt in den vergangenen Wochen die seit Ende des Kalten Krieges in Europa geltende Sicherheitsordnung von Grund auf in Frage. In seiner internationalen Selbstdarstellung präsentiert sich Russland als bedrohter Staat, der dringend „Sicherheitsgarantien“ des Westens benötige. Der Kreml betreibt eine gezielte Bedeutungsverschiebung von Sicherheitszusagen. Die Notwendigkeit solcher Garantien wird seit der Verhandlung des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages 1968 bezüglich des Schutzes atomwaffenfreier und nicht atomwaffenstarrender Staaten diskutiert. 

In Russland lagern heute mehr Nuklearsprengköpfe als in den drei NATO-Kernwaffenstaaten USA, Großbritannien und Frankreich zusammen. Moskau unterhält eine breite Palette von Trägersystemen für seine tausenden Atomwaffen – von Interkontinentalraketen über Langstreckenbomber bis zu Atom-U-Booten. Es verfügt über eine der drei mächtigsten konventionellen Armeen der Welt sowie über ein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat. Die Russische Föderation ist damit einer der militärisch sichersten Staaten der Welt.

Der Kreml setzt reguläre und irreguläre Truppen sowie das russische nukleare Drohpotential zur Führung verschiedener Kriege und zur dauerhaften Okkupation von Territorien ehemaliger Sowjetrepubliken ein. Nicht nur in Ost- sondern auch Westeuropa sowie auf anderen Kontinenten demonstriert der Kreml unverfroren einen Anspruch auf Sonderrechte zur Durchsetzung seiner Interessen auf dem Hoheitsgebiet souveräner Staaten. Unter Umgehung internationaler Regeln, Verträge und Organisationen jagt Moskau seine Feinde rund um die Welt. Der Kreml versucht politische Prozesse, Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt anderer Länder unter anderem mit Hetzkampagnen und Hackerattacken zu unterwandern. Letzteres geschieht teilweise geheim, jedoch mit dem offensichtlichen Ziel, demokratische Willensbildung in pluralistischen Staaten zu behindern oder zu diskreditieren. Insbesondere soll die politische und territoriale Integrität sich demokratisierender postsowjetischer Transformationsstaaten unterwandert werden.    

Diesem Treiben schaut Deutschland als größte europäische Wirtschaftsmacht seit nunmehr drei Jahrzehnten zwar kritisch, aber weitgehend tatenlos zu. In der Republik Moldau begann Moskaus Revision bereits 1992 unmittelbar nach dem Zusammenbruch der UdSSR mit einem massiven Eingriff der 14. Russländischen Armee. Ihre Reste stehen, trotz wiederholter Abzugsforderungen demokratisch gewählter moldauischer Regierungen und entsprechender Zusagen des Kremls, bis heute offiziell in Transnistrien. Weder auf diese noch auf die folgenden zahlreichen revanchistischen Abenteuer Russlands im postsowjetischen Raum sowie darüber hinaus reagierte die Bundesrepublik angemessen.

Mehr noch: Berlin hat mit seiner Außen- sowie Außenwirtschaftspolitik zur politischen und ökonomischen Schwächung osteuropäischer Nichtnuklearwaffenstaaten und zur geoökonomischen Stärkung einer zunehmend expansiven Atomsupermacht beigetragen. Deutschland verhinderte 2008 maßgeblich den Beitritt von Georgien und der Ukraine zur NATO. 2019 betrieb die Bundesregierung hingegen die Wiederzulassung der russischen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats, obwohl Moskau keine der Bedingungen für diesen hochsymbolischen Akt erfüllt hatte und hat.

Für die ohnedies fragilen ukrainisch-russischen Beziehungen war die Inbetriebnahme der energiewirtschaftlich überflüssigen ersten Nord-Stream-Gaspipeline 2011-2012 ein Desaster. Sie erscheint im Nachhinein als Wegbereiter für Russlands Invasion der Ukraine zwei Jahre darauf. Ein großer Teil der vorhandenen Gastransportkapazitäten zwischen Sibirien und der EU wurde im Jahr 2021 nicht genutzt. Dennoch schickt sich die Bundesrepublik jetzt an, mit der Eröffnung der Nord-Stream-2-Pipeline die verbliebene ökonomische Hebelkraft der Ukraine gegenüber Russland vollständig zu beseitigen.

Die EU-Wirtschaftssanktionen gegenüber Moskau seit 2014 waren milde und keine hinreichende Antwort auf den zunehmend aggressiven Kurs des Kremls. Die deutsche Entwicklungs-, Kultur- und Bildungszusammenarbeit mit der Ukraine, Georgien oder Moldau erzeugte vor dem Hintergrund fortgesetzter deutsch-russischer Sonderbeziehungen den Eindruck eines ostpolitischen Ablasshandels. Sie verringert nicht die Bedeutung schwerwiegender Fehlentscheidungen der deutschen Russlandpolitik, wie die Einladung Putins in den Bundestag 2001 oder die Modernisierungspartnerschaft ab 2008. Diese und ähnliche deutsche Schritte suggerierten vor dem Hintergrund damals wie heute unerwünschter russischer Truppen in Moldau und Georgien Moskauer Sonderrechte im postsowjetischen Raum.

Der Angriff Putins auf die Ukraine im Jahr 2014 erscheint im Lichte der vorausgehenden zwanzigjährigen Passivität deutscher Politik gegenüber russischem Neoimperialismus als geradezu logische Konsequenz. Die populäre Formel von der „Annäherung durch Verflechtung“ hat eine tragikomische Bedeutung erlangt. Es ist zu einer geographischen Annäherung des russischen Herrschaftsbereichs an die Grenzen der EU gekommen.

Der Kreml stellt nunmehr auch die politische Souveränität von Ländern wie Schweden und Finnland in Frage. Er fordert ein Verbot einer eventuellen künftigen NATO-Mitgliedschaft nicht nur für postsowjetische, sondern auch skandinavische Staaten. Der Kreml schreckt ganz Europa mit „militärtechnischen“ Reaktionen, sollte die NATO nicht – so Putin – „sofort“ auf die weitgehenden russischen Forderungen nach Revision der europäischen Sicherheitsordnung eingehen. Russland droht mit kriegerischer Eskalation, sollte es keine „Sicherheitsgarantien“ – sprich: eine Befugnis des Kremls zur Aussetzung des Völkerrechts in Europa – erhalten.

Vor dem Hintergrund solcher Verwerfungen sollte Deutschland schließlich seinen – nicht nur in Mittelosteuropa so wahrgenommenen – ostpolitischen Sonderweg verlassen. Die Verbrechen Nazideutschlands auf dem Territorium des heutigen Russlands 1941-1944 sind nicht zur Rechtfertigung bundesdeutscher Zurückhaltung bei der Reaktion auf den Revanchismus und Völkerrechtsnihilismus des Kremls geeignet. Insbesondere nicht, wenn es – wie im Fall der Ukraine – um russische Invasion in das völkerrechtlich anerkannte Territorium einer anderen Opfernation einstigen deutschen Expansionsstrebens geht. Die fortgesetzte demonstrative Verletzung auch von Moskau offiziell akzeptierter UNO-, OSZE- und Europarats-Grundprinzipien in Ost- und nun auch Nordeuropa darf nicht hingenommen werden.

Die Russlandpolitik der Bundesrepublik muss grundlegend korrigiert werden. Weitere lediglich verbale oder symbolische Reaktionen Berlins auf russische revisionistische Abenteuer werden, wie schon in der Vergangenheit, den Kreml nur zu weiteren Eskapaden verleiten. Deutschland kommt als Schlüsselland der EU, der NATO und der westlichen Wertegemeinschaft eine besondere Verantwortung zu.

Im Interesse internationaler Sicherheit, europäischer Integration und gemeinsamer Normen muss Berlin die Kluft zwischen seiner öffentlichen Rhetorik und realen Praxis in Osteuropa endlich schließen. Dies sollte sich in einer Reihe paralleler und konkreter Maßnahmen politischer, rechtlicher, diplomatischer, zivilgesellschaftlicher, technischer und ökonomischer Natur ausdrücken. Deutschland ist ein großer Handels-, Forschungs- und Investitionspartner sowohl Russlands als auch der EU-Ostpartnerschaftsstaaten sowie eine Führungsmacht der Union. Es hat mehr, ja in bestimmten Bereichen weit mehr Möglichkeiten sich einzubringen als die meisten anderen westlichen Länder. Dies gilt sowohl mit Blick auf die Eindämmung und Sanktionierung Russlands als auch in Bezug auf die Unterstützung der von Moskau zerstückelten und bedrängten Staaten. Berlin muss seinen guten Worten weit mehr und effektivere Taten als bislang folgen lassen.


Last Updated on 17. January 2022 by Lupo



3 responses

  1. […] Wochenende hatten sich 70 Ost- und Sicherheitsexperten in der ZEIT zu Wort gemeldet und ein Umdenken in der deutschen Russlandpolitik und eine härtere Gan…. Die ist nicht zu […]

  2. […] setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass es mit dem üblichen mediatorischen Nonsens, dem sich die deutsche Russlandpolitik der letzten 30 Jahre verschrieben hat, nicht mehr getan ist, sondern Tacheles geredet werden […]

  3. […] Das desaströse Wochenende sollte dringend Anlass geben, die Osteuropa-Politik auf den Prüfstand zu stellen. […]

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